Der Begriff “Shifting Baseline Syndrom” (SBS) beschreibt einen schleichenden Verlust der Wahrnehmung von Umweltveränderungen in der Gesellschaft, der dadurch entsteht, dass sich unsere Wahrnehmung von dem, was normal ist im Laufe der Zeit ändert. Diese Veränderungen können so langsam und schrittweise erfolgen, dass sie auch über Generationen kaum bemerkt werden, insbesondere wenn man sie im Vergleich zu einem früheren Zustand nicht wirklich kennt. Während meine Eltern mit uns noch an die Adria fuhren um mal die 30° zu erleben, war es schon “unerträgliche Hitze” mit 35° zur Geburt meiner Tochter Anfang der 90er. Damals völlig unvorstellbare 40 Grad, erschrecken heute niemanden mehr. Wir “gewöhnen” uns an die Dichte der Rekorde, das ist SBS.
Unser psychischer Schutzmechanismus, der unsere seelische Gesundheit schützt, indem er bedrohliche Vorstellungen aus dem Bewusstsein fernhält, verdrängt gern unangenehme Wahrheiten.
Das SBS hat auch Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung von Biodiversität und Artenvielfalt. Wenn wir uns an einen Zustand gewöhnen, in dem wir nur noch wenige Arten sehen, können wir die Auswirkungen dieser Verarmung der Artenvielfalt nicht mehr vollständig erkennen. Wir können auch anfälliger für die Ansiedlung invasiver Arten oder die Veränderungen von Ökosystemen sein, wenn wir nicht mehr an eine Vielzahl von Arten gewöhnt sind, insbesondere wenn dann von “Plagen” und “Schädlingen” gesprochen wird.
Wenn wir uns an eine Welt durch abstumpfen “gewöhnen”, in der extreme Wetterereignisse, dauernde Jahrhundertfluten und laufend Rekorde von Hitzewellen und Trockenheit häufiger auftreten, können wir das Ausmaß der Bedrohung, die der Klimawandel für die Menschheit darstellt, möglicherweise nicht mehr vollständig erfassen, wir relativieren in “das hat es schon immer mal gegeben”. Auch, wenn dies faktisch falsch ist. Wir vergleichen Umweltzustände nicht mit historischen Basislinien, mit Daten, Fakten, nicht mit Messungen, mit Tatsachen sondern mit unserer eigenen Ausgangssituation. Jegliche Besorgnis über den Zustand unserer Natur wird sofort abgetan, erst knallhart erlebte Katastrophen wie im Ahrtal rütteln uns kurz wach. Das SBS erhöht die Toleranz der Gesellschaft für Umweltzerstörung, Artensterben und für den Verlust natürlicher Lebensräume und lässt uns nicht ins Handeln kommen. Unsere Gefühle gegenüber dem Schützenswerten der Welt verändern sich durch diese „Generationen-Amnesie“.
Wir nehmen den aktuellen Zustand der Welt als normal wahr. Was normal ist, wird aber stetig neu definiert. Auch werden Klima, Wetter, Natur und Tier in der Gesellschaft über “Meinungen” ausgetragen. Ein Beispiel sind die Weidetierrisse. Zu emotional, zu sehr über Meinungen, begleitet von emotional agierenden Medien, sind sofort und selbstverständlich Wölfe der Grund. Gemessen aber, eben über faktische Beweise, über wissenschaftliche Aufzeichnungen/DNA hingegen, sind es noch immer Hunde die mehr Weidetiere erlegen. Also sind im Umkehrschluss Weidetiere tatsächlich oft nicht gut genug geschützt, denn weder Hund noch Wolf sollten unsere Weidetiere erlegen können.
Ein Ansatz gegen das SBS besteht darin, historische Aufzeichnungen und Daten zu verwenden, um Veränderungen im Laufe der Zeit zu erfassen und zu bewerten und öffentlich gut darzustellen. Dies kann dazu beitragen, den Menschen ein besseres Verständnis für Prozesse und Natur zu vermitteln und “Meinungen”, die uns verharren lassen zu relativieren. Um aktuelle und künftige Generationen über den Zustand der Umwelt auf dem Laufenden zu halten. Die Digitalisierung kann uns hierbei helfen.
Dazu positive Naturerfahrungen ermöglichen und verstärken, Zugang zur Natur vor allem in Städten erleichtern.
Umweltwissen vermitteln, schulisch als neues Hauptfach einführen. Auch historische Daten liefern, wie die Artenvielfalt vor der Industrialisierung aussah?
Natürlich auch und erst recht durch Wiederherstellung natürlicher Lebensräume, dem Rewilding.
Ich danke dem @martingrossniklaus. Mit ihm ist dieser Beitrag entstanden!
Wer viel und mit allen Sinnen draußen ist, dürfte eigentlich von SBS nicht befallen werden ;), weil sich die Veränderungen förmlich aufdrängen. Andererseits ist der Mensch Weltmeister im Verdrängen von Veränderungen, die sich nach und nach einschleichen. Als ich eben die Hunderunde durch die Feldmark gemacht habe, bearbeitete gerade ein Landwirt mit einem Trecker seinen Acker. Schon heute im April zog er dicke Staubwolken hinter sich her. Kaum zu glauben, aber der Wind in den vergangenen Tagen hat schon wieder die Feuchtigkeit aus dem Boden gepustet. Das macht wirklich nachdenklich und dazu passte wirklich das Video von Mark Benecke wie die Faust aufs Auge. Mir fiel dazu seine Grafik ein, dass der Sommer von März bis Oktober und der Winter von Dezember bis Januar dauert. Die Generationen nach uns werden es nicht einfach haben, wenn nicht endlich was passiert.