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Beobachtungsverhalten
Viele fantastische Naturliebhaber und Naturschützer sind uns bekannt. Menschen, denen die Erlebnisse und die Beobachtungen wichtig sind, die ohne jegliche Manipulation am Wildtier, wie zum Beispiel der klassischen Fütterung, eine Art Vertrauen zu den Tieren aufbauen konnten. Aber wie? Durch Passivität! Nennen wir es erstmal passive Präsenz.
Zwei Fotofreundinnen beziehen scheinbar belanglos ihren Fotoplatz, und die Käuze, an anderer Stelle auch Uhus, füttern dennoch ihre Jungen völlig entspannt in unmittelbarer Nähe. Besonders interessant wird das Ganze dann dadurch, dass weitere fremde Menschen, die zufällig den „Ansitz“ passieren, dennoch eine Nervosität oder gar Flucht auslösen.
Ein anderer Wildtierfreund hält sich eher passiv in der Nähe von Füchsen auf, und auch diese nähern sich ihm, fast als wäre er nicht da.
Lange Diskussionen mit Freunden habe ich geführt in der Abwägung, ob es eher schadet, als nutzt, wenn ich euch erzähle, dass mir auch jemand bekannt ist, der ein solches ‚Verhältnis‘ zu Wölfen, genauer gesagt zu einem kompletten Rudel Wölfe hat. Bei weitem natürlich nicht so wie in oben genannten Beispielen, aber von sonst üblicher Flucht der Wölfe kann auch hier bei ihm keine Rede sein. Sie prüfen, halten die Nase hoch und ziehen dann weiter, direkt einige Meter an ihm vorbei, sein Geruch ist ihnen bekannt, „er“ ist in den Augen der Wölfe nicht mehr als eben auch nur ein Prädator an der Seite sitzend.
Wie kann das sein? Wo ist die viel in den Medien zitierte ’natürliche Scheu‘, die Wolfsgegner, vorwiegend jagdlicher Prägung, gerne und immer wieder als Maßstab definieren, um gegebenenfalls dann einen „Problemwolf“ erkennen zu wollen. Ist das so? Ist der Wolf eine Ausnahme bei allen Wildtieren, muss er tatsächlich die „Scheu“ (Angst) vor dem Menschen haben?
Auch wir Menschen sind aus Sicht der Wildtiere, aller Wildtiere nur Teil des Ganzen, Teil der Natur. Oft zu hören ist die Meinung, dass alles im Wald stört! Gemeint sind wir, die Menschen. Natürlich ist es völlig überflüssig, motorisiert und lautstark durch die Wälder zu fahren oder mit einem Bollerwagen zum ‚Vatertag‘ den Wald zu vermüllen und Wildtiere lautstark aufzuschrecken. Auch sollten Gesellschaftsjagden und Drückjagden längst der Vergangenheit angehören, vor allem in unseren Naturschutzgebieten. Der Jogger, der Mountainbiker und sogar die sich laut unterhaltenden Spaziergänger stören jedoch absolut nicht. Nicht einmal der Hund, der ruhig und souverän in der Nähe seines Halters bleibt, stört nicht so lange das Gespann auf den Wegen bleibt.
Wildtiere können noch viel mehr, sie sind in der Lage, zwischen den einzelnen Menschen genau zu unterscheiden und sie sogar wiederzuerkennen. Eine Gruppe Radfahrer wird lediglich beobachtet; insbesondere das standorttreue Wildtier wie z. B. das Reh, hat aus seinen Beobachtungen längst gelernt, dass Wegbenutzer nur den bekannten Weg entlangfahren. Daher verharrt es nur einen Moment, lässt sich durch Beobachtung erneut die Erfahrung quittieren und äst weiter. Aber zB. vier anfahrende und im Wald parkende SUVs veranlassen es dennoch zur Flucht.
Sie beobachten uns, sie wägen ab und lernen. Sie wollen wenig verstoffwechseln, aber eben auch überleben. Irgendwo dazwischen liegt ihre Reaktion und ihr Handeln, das aus ihren Beobachtungen resultiert. Das trifft in irgendeiner Form auf alle Wildtiere zu, die Fluchtdistanzen sind dabei nur völlig verschieden, auch innerhalb einer Wildtierart.
Jagdfreie Gebiete zeigen uns, wie sich Wildtiere unter tatsächlichen natürlichen Bedingungen verhalten. In europäischen jagdfreien Arealen sieht man Rotwild nur 150 Meter entfernt äsen; in Niedersachsen kommt man dem Rotwild oft nicht einmal bis auf 800 Meter nah.
Auch Berlin ist ein extremes Beispiel anderer Art. Hier sind Waschbär, Fuchs, Wildschwein und auch Rehe bis tief in die Stadt hinein sehr nah, fast zum Greifen nah anzutreffen. Die Wildtiere sind dort überhaupt nicht scheu, trotz Lärm, trotz der Stadthunde und trotz lauter Menschen. Sehr zu empfehlen ist hier der Account bzw. die Beiträge von @die_freundliche_spinne.
Wildtiere, selbstverständlich auch Wölfe, kennen Traktoren, Panzer und Autos; diese werden als gefahrlos eingestuft, sodass sie gelassen auch mal dicht daran vorbeigehen. Der Mensch im Fahrzeug ist aus der Sicht der Wildtiere eine Einheit mit dem Fahrzeug. Auch Touristen aus Kenia, Namibia oder Südafrika kennen das von den Autosafaris, bei denen Großkatzen nur 5 Meter neben den Fahrzeugen fotografiert werden.
Wildtierfotografen in Deutschland bezeugen oft, dass sie aus dem Auto sehr viel näher an die Wildtiere herankommen, da diese viel weniger flüchten. Die vielen Aussagen, „der Wolf kam am helllichten Tage dem Menschen gefährlich nah“, sind in diesem Zusammenhang völliger Blödsinn.
Hier bei uns im stadtnahen, fast jagdfreien Wald gehe ich mit meinem Hund „Nox“ bis zu 10 Meter an einer Gruppe Rehe vorbei – kein Problem. Videos belegen das in den Highlights auf meinem Instagram-Account.
Was aber ist Scheu und warum ist sie bei Wildtieren so unterschiedlich? Grundsätzlich lassen sich jedoch einige übergreifende Muster und Reaktionen bei Wildtieren beobachten.
Tief verankert ist die Vermeidung von Flucht; eine permanente, unnötige Verstoffwechselung wäre auf Dauer tödlich. Manche Arten sind von Natur aus „scheuer“ als andere. Die Individualität des Wildtieres, das Alter, das Geschlecht, der Gesundheitszustand und frühere Erfahrungen spielen eine sehr große Rolle. Andere Wildtiere nutzen Verstecke oder Tarnung.
An einer Wildgans sind Nox und ich oft schon längst vorbei, wenn sie sich dann doch noch mal mit ihrem Ruf verrät. Vielleicht kommt daher aus der Jagd die Beschreibung „dumme Gans“. Ein Wolf ist viel zu clever; er verharrt zunächst, beobachtet genau und manchmal auch lange. Selbst wenn er eine gewisse übliche Fluchtdistanz dabei deutlich unterschritten hat, bleibt er einfach stehen, solange wir ihn nicht gesehen haben. Unsere Sichtung wird ihm beispielsweise durch unser Stehenbleiben oder indem wir uns zu ihm wenden, bestätigt.
Diese Tatsache ist auch insofern interessant, als hier klar wird, dass viele Menschen, insbesondere in bereits erschlossenen Wolfsgebieten, vermutlich auch sehr oft schon „Kontakt“ mit dem Wolf hatten, davon aber nie erfahren haben. Der Wolf nimmt uns viel öfter wahr, als wir ihn. Bei den ihm weit überlegenen Sinnen würde ich leicht von einem 1:30 Verhältnis bei einem einfachen Waldbesucher ausgehen und von 1:10 bis 1:20 bei einem geübten Auge, Wölfe sind uns in der Sinneswahrnehmung extrem weit überlegen. Während der Mensch sich nur auf sein einfaches Auge verlässt, kann der Wolf auch nachts fantastisch sehen, hat 25 % mehr Sehfeld, eine bis zu 1.000-mal sensiblere Nase und kann unter optimalen Bedingungen einen Artgenossen bis zu 10 km weit rufen hören und bis 2 km weit krankes Wild riechen, bzw. für die nächste Jagd ausmachen.
Viele Wildtierarten haben eine angeborene Vorsicht gegenüber Prädatoren, auch dem Menschen als potenzieller Gefahr. Bei direkter Begegnung oder der Wahrnehmung der Anwesenheit (Geräusche, Gerüche, Bewegungen) ist die häufigste Reaktion die Vermeidung oder Flucht. Jede Wildtierart und sogar einzelne Individuen haben eine spezifische Distanz, die sie zu Menschen einhalten möchten. Wird diese Distanz unterschritten, lösen sie grundsätzlich eine Fluchtreaktion aus. Die Fluchtdistanz kann je nach Situation variieren; sie ist bei Jungtieren aufgrund mangelnder negativer Erfahrungen oft viel geringer. Ein Grund weshalb völlig unerfahrene Jungwölfe versehentlich Dörfer durchqueren, bzw. wir meist nur Jungwölfe überhaupt sehen.
Bevor die Flucht ergriffen wird, zeigen viele Wildtiere ein Alarmverhalten oder ein Beobachtungsverhalten, wie z.B. das Erstarren in einer bestimmten Position, das Heben des Kopfes und das Aufrichten der Ohren, um die Situation mit allen Sinnen besser einschätzen zu können. Bei anhaltender Bedrohung folgen dann Warnlaute oder Signale für Artgenossen; beim Rotwild ist oft eine unverwechselbare Körpersprache zu beobachten. Sie „prüfen“ die Gegend; bei Verdacht stampfen sie mit den Vorderläufen auf, testen ihre Umgebung.
Den Begriff Scheu sollten wir grundsätzlich ablegen, da er der Cleverness der Wildtiere nicht gerecht wird und eher unsere Arroganz ihnen gegenüber vermittelt. Mit Scheu assoziieren wir nur flach „Angst“; das tatsächliche Verhalten ist also viel komplexer. Für den Wolf gilt das in einem noch höheren Maß, schließlich wäre sonst unser Hund nicht aus ihm hervorgegangen. Der Begriff des Beobachtungsverhaltens ist viel gerechter; er verdeutlicht das tatsächliche komplexe Geschehen, auch wird er respektvoller dem Wildtier gerecht.
Am Ende sei mir bitte ein abweichendes Schlusswort erlaubt. Gerade in diesen Tagen fallen mir viele auch tolle Engagements auf, sei es für den Fuchs, für das Eichhörnchen, für den Wald, den Luchs oder den Wolf.
Jedes Wildtier, jede Pflanze ist selbstverständlich eine von der Natur evolutionär geschaffene Lebensform. Alles erfüllt eine wichtige Aufgabe im Gesamtkontext, von der Laus bis zum Wolf, vom Moos bis zur Eiche. Genau deshalb ist jede Art (!) von natürlicher Lebensform wichtig und bedarf einer gleichwertigen Betrachtungsweise.
Ja, auch mich fasziniert der Wolf als Spitzenprädator, er ist eine gewaltige Chance zur Gesundung der Wälder, der Artenvielfalt. Der Mensch hat seit Jahrzehnten bewiesen ihn nicht ersetzen zu können. Jede natürliche Lebensform füllt also eine Lücke, für die sie sich evolutionär speziell entwickelt hat. Eine Lücke entsteht aber, wenn diese Art fehlt, sei es ein Pilz, ein Insekt, eine Blume oder gar ein Spitzenprädator. Es geht bei weitem nicht nur um den gesellschaftlich polarisierenden Wolf, sondern um die Grundvoraussetzung jedes Lebens, der Lebensräume eben, die wir vielem Leben nehmen, die schwindende Artenvielfalt und die Verluste an Biodiversität sind unser menschlich geschaffenes Ergebnis.
Wir Menschen haben nur Teile des Zusammenspiels der Natur tatsächlich verstanden und äußern in unserer Arroganz den Anspruch in allen Prozessen eingreifen zu können, um zu unserem alleinigen Vorteil und unserer Bedürfnisbefriedigung Regeln und Reglementierungen festzulegen. Schlimmer noch, wir glauben, neben der Natur eine künstliche Parallelwelt, wie die der Kulturlandschaft, erhalten zu können. Domestizierte Tiere, „Nutztiere“ wie Schaf und Rind, schließen keine evolutionären Lücken, sie belasten wie der Mensch die Umwelt! Für den Menschen geschaffen, allein für einen menschlichen Nutzen eben, tragen wir die Verantwortung für diese Tiere. Der damit einhergehenden hohen Verantwortung müssen wir uns bewusst sein, der echten Natur daher unbedingt auch ihren Raum zur Entfaltung zurückgeben.
Im großen Klimawandel, im größten Artensterben und allergrößtem Biodiversitätsverlust, erkennen wir unser Versagen nicht.
Anbei mit fanstastischer Unterstützung aus Berlin von @die-freundliche_Spinne aus dem Instagram, bzw. Marco Papajewski – Wildlife Photography aus dem Facebook , Wildtiere in der Stadt.
Quellen:
Ausnahmsweise hier mal keine zu nennen, empfehle aber meine Seite „Linksammlung“.
https://naturdigital.online/linksammlung
Eine sehr zu empfehlende Sendung hier. Es geht um die Renaturierung, um den Schritt zur Natur, eben auch bei uns im angeblich dichtbesiedelten Deutschland möglich und nötig!!
https://www.planet-wissen.de/video-zurueck-zur-natur–wie-schaffen-wir-das-100.html
Vielen Dank Guido!
Für einen weiteren wunderbaren Beitrag, der zeigt, das doch Einige einfach in Ihrer Matrix leben, und alles glauben, was vom deren Umwelt verbreitet wird.
Ich erlebe das Tag für Tag, wenige können auch im Alltag Situationen aus dem Moment heraus einschätzen. Es wird aus dem Unterbewusstsein heraus gehandelt, machen alle so, mach ich schon immer so.
Und das ist fatal. Viele Leben zu sehr im Außen und werden durch erlernte Angst geleitet!
Mein Lieblingsspruch diesbezüglich: „ängstliche lebensunfähige Zivilisationsopfer“ Wenn gleich nicht alle, aber viele!!
Liebe Grüße Katja
Was für ein gelungener Beitrag 👌 Ich glaube, dass sich in den von dir genannten Beispielen und Erfahrungen viele „Naturgänger“ wiederfinden. Ein Jogger, der im Wald fast täglich mehrmals die gleiche Runde läuft, hat mal berichtet, dass ein Reh nicht mehr weglaufen ist, sondern am Wegrand stehengeblieben ist. Die Erklärung eines Jägers dazu: „das Reh hatte bestimmt Tollwut“. Was bedeutet, dass es Menschen gibt, die diese Erfahrungen, die du beschreibst, nicht machen bzw. sich diese gar nicht vorstellen können, und deshalb Wildtiere und deren Verhalten schlichtweg anders bewerten. In unserem Sprachgebrauch heißt es ja sogar: „das scheue Reh“, das Beispiel wird so im Wörterbuch verwendet, die Eigenschaft „scheu“ wurde dem Reh quasi schon offiziell zugeschrieben. Nur von wem und auf welcher Grundlage?
Besonders schön finde ich, wie du es am Beispiel der Käuze beschrieben hast: Vertrauen durch Passivität erwerben. Um sich auf Tiere, deren Verhalten und deren Bedürfnisse einzustellen, muss man die Bereitschaft haben, sie wirklich kennen zu lernen. Ich finde, auch für uns Menschen ist dein Begriff „Beobachtungsverhalten“ sehr treffend: wir beobachten die Tiere und verhalten uns entsprechend. Leider verhalten wir uns oft aufgrund der erlernten Bewertungen („böser Wolf“) und weniger aufgrund tatsächlicher Beobachtungen. Wenn wir das schaffen, erst einmal „nur“ zu beobachten, beschreibend, weniger bewertend, wäre das vermutlich hilfreich. Wenn man das zB auf den Wolf anwendet, ist nicht nachvollziehbar, wie das von einigen geforderte Bestandsmanagement überhaupt nur in Erwägung gezogen werden kann. Danke für diesen aufschlussreichen und wieder so wertvollen Beitrag 🙏🫶
Ein sehr interessanter Beitrag. 👍🏻😊 Ich persönlich kann die Erfahrungen von Dir und den Fotografen nur Bestätigen. Besonders intensiv erlebe ich das immer mit den Steinböcken… Die Fotos von meinem letzten Instagram Post mit den Steinböcken entstanden nicht durch anpirschen und Tarnung, sondern durch das gegenseitige Vertrauen und Respekt. Ich habe Respekt vor Ihnen und sie respektieren mich in Ihrer Nähe. Dies auch, weil ich diese Gruppe schon seit Jahren „begleite“ und immer wieder sehe. Sie kennen bestimmt meinen Geruch, meinen Gang, meine Gesamterscheinung…
An diesem Tag war ein neueres Mitglied, ein jüngerer Bock, dabei. Dieser reagierte genau so, wie du es oben beschrieben hast. Aufmerksam, ein Pfiff durch die Nase und mit viel mehr Abstand. Die älteren Böcke kamen nach einer Weile bis zu 3m zu mir und grasten völlig Entspannt.
Ich denke die Tiere merken, anhand des Verhaltens des jeweiligen Menschen über die Zeit, wer ihm schaden und wer sie einfach in Ruhe lässt. Dies bestätigt mir auch immer ein Foto Kollege aus dem Kanton Genf. Dort kann man die Tiere viel besser in ihrem natürlichen Verhalten beobachten. Die Tiere reagieren alarmiert, wenn Hunde oder bsp. kleine Kinder bei den Menschen sind. Aber nicht generell aufgeregt bei Menschen. Das hat auf jeden Fall mit dem fehlen aller Jäger, Grossraubtiere wie „Hobbidioten“, in der Natur zu tun. Dort haben die Tiere ein viel natürlicheren Respekt und das Vertrauen in die zweibeinigen komischen Menschen zurückgewonnen.
Aber vieleicht interpretiere auch ich hier auch viel zu viel hinein und romantisiere das Ganze. Für mich aber kein Problem, denn ich schade damit weder den Tieren noch der Natur. Solange das so ist und die Tiere mich in ihrer Nähe dulden, darf ich weitermachen.
Eine gute Woche noch und Grüsse aus der 🇨🇭🙋🏻♂️